Welche Rolle spielt Nachhall in der Audioproduktion?

März 1, 2017 | Know-how

Nachhall ist ein wichtiger Aspekt der Raumakustik und vom Thema Audioproduktion nicht wegzudenken. Hier erfährt ihr, was Nachhall genau ist und welche Rolle er in unserer Wahrnehmung und in der Musikproduktion spielt.

In diesem Artikel behandeln wir ein paar grundlegende Fragen zum Thema Nachhall –  wird oft auch Hall, Reverb, Raum oder Nachklang genannt. Weniger korrekt, aber auch oft verwendet, sind Begriffe wie Delay, Echo, Resonanz oder Raumresonanz.

Inhalt:

Hintergrund: Raumklang vom Konzertsaal bis zur Impulsantwort

Jeder Raum – ob offen oder geschlossen – reflektiert Schallwellen auf seine ganz eigene Art. Konzerthalle, Stadion, Fabrikhalle, Bar, Proberaum, Badezimmer erzeugen bei jedem Schallereignis einen charakteristischen Nachhall – einen akustischen Fingerabdruck sozusagen. Monumente der guten Akustik auf der ganzen Welt – wie zum Beispiel die Mailänder Scala, der Wiener Musikverein, die Walt Disney Concert Hall oder die Hamburger Elbphilharmonie – wurden mit unheimlich viel Aufwand erbaut, um ganz bestimmte akustische Eigenschaften inklusive erwünschten Nachhallzeiten zu erhalten.

(c) The Los Angeles Philharmonic Association
(c) The Los Angeles Philharmonic Association

Seit wir Musik mit Mikrofonen aufnehmen, muss auch der Raum, in dem wir aufnehmen, berücksichtigt werden. Schalltote Räume sind extrem unangenehm und Aufnahmen ohne Hall wirken einfach nur unnatürlich (Daily Mail, “The worlds quietest place”). Bevor es Hallgeräte gab, hat man unterschiedliche Techniken ausprobiert, gezielt räumliche Eigenschaften für die Erzeugung von Nachhall zu nutzen:

Schalltote Räume sind extrem unangenehm und wirken unnatürlich.

Blues-Legende Robert Johnson setzte sich in die Ecke eines Hotelzimmers und sang hinein – das „corner loading“ war geboren. Gitarrist Duane Eddy verwendete als sogenannte Hallkammer einen ausgemusterten Wassertank. Und niemand Geringerer als Les Paul, der sich zeitlebens intensiv mit künstlichem Nachhall beschäftigt hat, entwarf für Capitol Records in den 1950ern acht Hallkammern (echo chambers) aus Beton, die 10 Meter unter den eigentlichen Studios in der Erde vergraben wurden. (The Atlantic, „How Human Conquered Echo“)

Zu den ersten künstlichen Hallgeräten zählen der Federhall und der Plattenhall, die elektromechanisch funktionieren. Das elektromagnetische Tape Delay, ebenfalls aus früheren Audiotechnikzeiten, arbeitet mit kurzen Verzögerungen und Filterung von Bandaufnahmen. Die ersten digitalen Hall-Geräte von EMT und Lexicon revolutionierten in den 1970ern die Musikproduktion. Die digitale Domäne ist es auch, die zwanzig Jahre später den nächsten großen Entwicklungsschritt, den Faltungshall (convolution reverb), mit sich bringt: Der Faltungshall kann mithilfe von Impulsantworten, die in den tatsächlichen Umgebungen erstellt worden sind, reale Räume täuschend echt nachbilden. Impulsantworten sind die akustische Reaktionen eines Raumes auf ein ideales, konstant gehaltenes Ausgangssignal, wie zum Beispiel einem einem kurzen Impuls (ähnlich einem Pistolenschuss), einem weißen Rauschen oder einer frequenzmodulierten Sinuswelle.

Wir haben hier ein paar Tonbeispiele zu den unterschiedlichen Arten der künstlichen Hallerzeugung zusammengetragen:

Duane Eddy in der Hallkammer

Snare ohne zusätzlichen Hall, zum Vergleich

Snare mit Federhall

Snare mit Plattenhall

Snare mit Tape Delay

Snare mit Faltungshall “Konzertsaal”

 

Es gibt viele verschieden Reverb-Arten, mit denen du deinen Audiotracks eine bestimmten Charakter geben kannst (mehr Beispiele findest du im Artikel “Reverb – A Beginner’s Guide” von Guitar Signal.

Psychoakustik: Wie wir akustische Räume wahrnehmen

Auch mit verbundenen Augen können wir eine ganze Menge über unsere Umgebung aussagen. Die Art und Weise wie Schallwellen von Wänden zurückgeworfen werden und wie lange sie für gewisse Distanzen benötigen, beinhaltet für das Gehör aufschlussreiche Information über die Beschaffenheit des Raumes. Technisch aufgeschlüsselt, unterscheiden wir die Komponenten “Direktschall” (direct signal), “erste und frühe Reflexionen” (initial, early reflection) und “Diffusschall” (late reflections).

Erste Reflexionen

Unser Gehör hat eine sehr genaue zeitliche Auflösung. Indirekten von direktem Schall können wir unterscheiden, wenn er mindestens 10 ms später beim Ohr eintrifft. In dieser Zeit legt der Schall, der mit 343 m/s unterwegs ist, nicht mehr als 3 bis 4 Meter zurück. Alles, was uns mit weniger als 10 ms Verzögerung erreicht, summieren wir zum Direktschall. Es kommt zu einer Verstärkung und Färbung der ursprünglichen Schallquelle. Reflexionen in diesem Zeitfenster können auch ungewünschte Kammfiltereffekte zur Folge haben.

 

Frühe Reflexionen

Reflexionen, die zwischen 20 und 50 ms auf das Ohr eintreffen, vermitteln uns die meiste Information über die Beschaffenheit eines Raumes – also seine Größe, die Oberflächen und Hinweise auf seine Form. Der zeitliche Unterschied zwischen frühen Reflexionen und dem diffusen Nachhall enthält für den Hörer auch wichtige Informationen über die Distanz zur Schallquelle.

Diffuser Nachhall

Alle Reflexionen, die später eintreffen, nennt man diffuser Nachhall oder Diffusschall (auch “Hallfahne”). Er bettet den Klang ein, kann ihn bei entsprechend hohem Anteil auch undeutlich machen. Wie sich der Diffusschall am Frequenzspektrum abbildet, hängt auch stark von den reflektierenden Oberflächen ab.

Nachhall und seine Bedeutung für die Audioproduktion

Hall spielt eine wichtige Rolle in der Audio- und Musikproduktion. Künstlicher Hall ist nämlich auch ein wichtiges Werkzeug, um für den dreidimensionalen Klangeindruck eines Mixes (Stichwort: Tiefenstaffelung) zu sorgen. Bei Produktionen kommt es oft zu Raumzusammensetzungen, die in der Natur so nicht möglich wären: Der Sänger steht in einem Badezimmer, die Snare in einer Halle, die Kick in einem kleinen, trockenen Raum und der Gitarrist im Wembley Stadion. Das geht in der Realität natürlich nicht auf die sprichwörtliche Kuhhaut. Klassische Produktionen wollen hingegen meistens das Orchester in seiner tatsächlichen Formation abbilden.

Bei viel Nachhall entsteht Distanz, bei wenig Intimität.

Gute Stimmung mit dem richtigen Nachhall

Raum hat viel mit Stimmung zu tun. Man schafft Nähe oder Entfernung. Ein großer Raum klingt tendenziell mächtig – der Hörer wird klein, Distanz entsteht. Kleine Räume vermitteln ein Gefühl von Nähe – Intimität entsteht. Räumliche Nähe erweckt den Eindruck, der Sänger singe ausschließlich für einen ganz persönlich – „especially for you“. Ein bewusst eingesetztes Stilmittel.

Zeitgeist und genrespezifische Stilelemente spielen beim Halleffekt natürlich auch eine große Rolle. Man denke bloß an die riesigen Snare-Drums der 80er-Jahre. Die ersten Weichen für den passenden Raumklang und Nachhall für eure Audioproduktion stellen sich in jedem Fall schon während der ursprünglichen Aufnahme.

Der Raum auf der Audioaufnahme

Der erste Schritt bei einer Aufnahme ist es meistens, den Abstand zwischen Instrument und Mikrofon festzulegen. Ein wichtiger Richtwert ist dabei der Hallradius: Der Hallradius ist jene Distanz eines Mikrofons zu einer Schallquelle, an der Direktschall und Diffusschall gleich laut sind. Platziert man das Mikrofon innerhalb des Radius, ist die Aufnahme trockener und weniger räumlich. Außerhalb des Hallradius wird sie diffuser und stärker von den Reflexionen im Raum beeinflusst. Die exakte Größe des Hallradius hängt von der Nachhallzeit des Raumes ab, der Richtwirkung der Schallquelle und der Richtcharakteristik des Mikrofons.

Der Einsatz von Ambient-Mikrofonen („Raummikros“) ist eine gängige Methode. Wenn man den Klang eines Raumes bewusst als Stilmittel einsetzen will, kann man diesen mit einem Ambient-Mikro getrennt aufnehmen. Der Aufnahmetechniker platziert das Ambient-Mikrofon so, dass es wesentlich mehr vom Diffusschall als vom Direktschall aufnimmt – also außerhalb des Hallradius liegt. Im Nachhinein kann man beide Signale kontrolliert mischen.

Auch der umgekehrte Weg, die Verminderung von Raumanteilen auf bestehenden Aufnahmen, ist vor allem durch die Disziplin des Music Information Retrievals möglich geworden. Neue digitale Technologien lassen die Manipulation von Direktschall und Reflexionen auch auf bestehenden Aufnahmen zu. Mit Plug-ins wie dem proximity:EQ+ von sonible lässt sich der Raumanteil auch auf bereits bestehenden Aufnahmen entfernen oder verstärken. Durch frequenzselektive Anpassung können Räume auch nachträglich “geformt” werden.

Pro-Tipps & Tricks: Kreativen Umgang mit künstlichem Nachhall

  • Sogenanntes gated reverb kann einen Sound verlängern.
  • Mit umgedrehten Hall kann künstliche Crescendo-Effekte erzielt werden.
  • Nachhall zusammen mit Frequenzmodulation erzeugt musikalische Spannung.
  • Entsprechend lange Pre-Delay Zeiten ermöglichen auch den rhythmischen Einsatz von Nachhall. Es entsteht ein Echo- oder Slap Back-Effekt, der schon mal den einen oder anderen Groove gerettet hat.