Dynamik: Was hat sich verändert?

Februar 3, 2023 | Know-how

Von Tonbandaufnahmen über die Eskalation der Lautheit (auch Loudnesswar genannt) bis hin zu digitalem Streaming – wie hat sich die Dynamik unserer Musik über die Jahre hinweg verändert und warum?

Seit ein paar Jahrzehnten ist Dynamik in Musik ein sehr großes Thema. Aus unserer Tontechnik-Welt dringt meist nichts bis zu den breiten Massen vor, doch die berühmt-berüchtigten „Loudness Wars“ und ihre Folgen haben es geschafft, Teil des Allgemeinwissens zu werden. Diese Eskalationen der Lautheit scheinen heute zwar nur mehr Geschichte zu sein, doch Lautheit und Dynamik verändern sich weiterhin laufend.

In diesem Artikel begeben wir uns auf eine Reise in die Vergangenheit und veranschaulichen die Veränderungen von Dynamik – und deren Gründe – in Popmusik über die Jahrzehnte hinweg. Wir haben eine Reihe an Musikstücken mit unserem Plug-in true:level analysiert und zeigen dir Beispiele von Songs, die charakteristisch für die damals typische Dynamik sind.

Zwei Wellenformen im Vergleich: Thinking of you von Sister Siedge vs. Californication (1999) von Red Hot Chili Peppers

Zwei Wellenformen im Vergleich: Thinking of you von Sister Siedge vs. Californication (1999) von Red Hot Chili Peppers

1940er und 1950er

Wenn man auf die 40er und 50er Jahre zurückblickt, sieht man zwar noch keine klaren Anzeichen eines heftigen Loudness War, dennoch erkennt man die ersten Anzeichen dieses “Trends”. Vergleicht man die Lautheit und Dynamik eines beliebigen Musikstücks aus dieser Zeit mit einem Song von heute, wird deutlich, wie sehr sich alles verändert hat.

Einer der Hauptgründe dafür ist, dass wenn plötzliche und extreme Pegeländerungen in die Rillen einer Schallplatte geschnitten werden, die Veränderung ausreichen kann, um die Nadel aus ihrer Position zu werfen. Die Toningenieure der 40er und 50er Jahre waren also darauf bedacht, die Lautstärke nicht zu stark zu verändern.

Anhand von true:level sehen wir, dass Louis Armstrongs C’est Si Bon (1950) im Vergleich zum heutigen Spotify-Standard eine geringe Gesamtlautheit aufweist und besonders dynamisch ist.

true:level Analyse von C’est Si Bon (1950) von Louis Armstrong

true:level Analyse von C’est Si Bon (1950) von Louis Armstrong 

Aber schon damals gab es einen Anreiz, Musik lauter zu machen: Die Verwendung von Jukeboxen in belebten Bars und Kneipen begann sich auf die Lautheit von Schallplatten auszuwirken. Im Allgemeinen wurde die Lautstärke der Jukeboxen vom Wirt eingestellt und nicht verändert. Die Plattenfirmen fanden dies schnell heraus und begannen damit, ihre Titel so zu mastern, dass sie sich nicht nur gegen die Lautstärke von den Gesprächen in der Bar behaupten konnten, sondern sich auch von anderer Musik abhoben.

1960er und 1970er

Während sich die Tontechnik und ihre Produktionspraktiken in Bezug auf eine zu erhöhende Lautheit verbesserten, stieg die Lautstärke der Schallplatten immer weiter an. Die Einführung des kommerziellen Radios im Jahr 1954 und dessen zunehmende Zugänglichkeit verschärfte dies noch weiter. Wie bei den Jukeboxen wollten die Plattenfirmen, dass sich die Musikstücke ihrer Musiker von anderen abheben, damit sie bei den Sendern und Zuhörenden auffällt. Die physikalischen Grenzen des Vinyls verhinderten jedoch, dass der Loudness-War seine Extreme erreicht.

Wenn wir die Gesamtlautheit und Dynamik von zwei Titeln vergleichen, deren Veröffentlichungen fast zwei Jahrzehnte auseinander liegen, können wir sehen, wie sich die Dinge in dieser Zeitspanne verändert haben. Zunächst einmal hat Ben E. Kings Stand By Me (1961) im Vergleich zu den heutigen Standards eine geringe Lautstärke, aber einen hohen Dynamikbereich. Bill Brandons We Fell in Love While Dancing (1977) entspricht zwar auch nicht den heutigen Anforderungen, ist aber lauter und weniger dynamisch als Stand By Me.

true:level Analyse von We Fell in Love While Dancing (1977) von Bill Brandon

true:level Analyse von We Fell in Love While Dancing (1977) von Bill Brandon

1980er

Anfang der 80er Jahre kam es zu einer großen Revolution im Musikkonsum: die Compact Disc. Mit ihrem Einzug in den kommerziellen Musikmarkt hatten die Massen Zugang zu digitalem Audio und ihr kleines Format und der größeren Kapazität führten zu ihrem großen Erfolg. Außerdem wiesen CDs nicht denselben physischen Verschleiß wie Schallplatten auf, was sie zuverlässiger machte.

Die Umstellung auf die CD hatte auch Nutzen für die Tontechnik. CDs hatten ein wesentlich geringeres Grundrauschen als Vinyl. In Kombination mit einem klar definierten maximalen Spitzenpegel konnte die Lautstärke in der Produktion ordentlich hochgedreht werden.

Auf den ersten Blick wirkt dies vielleicht wie ein Vorteil. In der Praxis war dies allerdings der Auslöser für den Höhepunkt des Loudness War. Wir können diesen Lautstärke-Sprung bei vielen populären Titeln der 80er Jahre beobachten, zum Beispiel bei Whitney Houstons I Wanna Dance With Somebody (1987).

true:level Analyse von I Wanna Dance With Somebody (1987) von Whitney Houston

true:level Analyse von I Wanna Dance With Somebody (1987) von Whitney Houston

1990er

In den 90er Jahren hatte die CD die Schallplatte fast vollständig abgelöst. In Tonstudios fand man schnell heraus, wie man die höchstmögliche Lautheit aus dem Format herausholen konnte. Natürlich spielte dafür auch die ständige Weiterentwicklung der Technologie eine Rolle.

Die herausragendste Entwicklung in dieser Zeit war die zunehmende Leistungsfähigkeit und Verfügbarkeit von Digital Audio Workstations (DAWs). Bereits 1977 kam die erste DAW Digital Editing System von Soundstream auf den Markt. Dennoch war sie damals noch nicht ausgereift genug, um etablierte Tonstudios zu ersetzen. Im Jahr 1989 veröffentliche Digidesign die DAW Sound Tools, den Vorgänger von Pro Tools.

Dieses Programm war viel besser dafür geeignet, die Aufgaben eines Studios zu übernehmen und beschleunigte den Wechsel von der Analogtechnik zur Digitaltechnik, die in den 90er Jahren immer mehr Verbreitung fand.

Die neue Rolle der DAW in der Welt der Musikproduktion öffnete auch Tür und Tor für die Welt der digitalen Musikinstrumente und Audioeffekte. Am relevantesten für den Loudness War war der Limiter L1 von Waves, der 1994 auf den Markt kam. Der L1 war der erste digitale Brickwall-Limiter mit Look-Ahead-Funktion. Er wurde zum bevorzugten Werkzeug für Toningenieure, die den Dynamikbereich so stark wie möglich verkleinern wollten.

In diesem Jahrzehnt können wir den wohl (bestreitbar) offensichtlichsten Abstieg in den Loudness War beobachten. Smells Like Teen Spirit (1991) von Nirvana ist ausreichend laut und behält seine Dynamik.true:level Analyse von Smells Like Teen Spirit (1991) von Nirvana

true:level Analyse von Smells Like Teen Spirit (1991) von Nirvana

Nur acht Jahre später veröffentlichten die Red Hot Chilli Peppers Californication, das weithin als eines der größten Opfer des Loudness Wars gilt. Ein Blick auf die Messwerte von true:level zeigt den krassen Unterschied in Dynamik und Lautheit zwischen den beiden Tracks. Die Dynamik von Nirvana ist mit 13,4dB wesentlich dynamischer als die der Chillis mit 7,4dB.true:level Analyse von Californication (1999) von Red Hot Chili Peppers

true:level Analyse von Californication (1999) von Red Hot Chili Peppers

2000er

Zu Beginn des Jahrtausends gab es in der Audiowelt eine interessante Entwicklung, die in direktem Zusammenhang mit dem Loudness War stand. In dem Bestreben, die Benutzerfreundlichkeit von MP3-Playern und iPods zu verbessern, wurde eine Technologie entwickelt, die eine gleichbleibende Lautstärke zwischen den einzelnen Liedern gewährleisten sollte, sodass Zuhörende nicht ständig an ihren Lautstärkereglern drehen mussten. Bei MP3-Playern hat dies die Form eines Standards namens Replay Gain angenommen. Das Äquivalent dazu von Apple heißt Sound Check und ist auch heute noch Standardeinstellung in Apple-Geräten.

Diese neuen Wiedergabealgorithmen führten dazu, dass manche Ingenieure ihre Herangehensweise an die Lautheit hinterfragten. Welchen Sinn hätte es, die gesamte Dynamik eines Titels zu entfernen und ihn so laut wie möglich aufzudrehen, wenn das Abspielgerät des Endbenutzers die Lautstärke nur an den vorherigen Titel anpasst?

true:level Analyse von American Boy von Estelle

true:level Analyse von American Boy von Estelle

Trotz dieses Fortschritts in der Audiotechnologie für Konsumierende, strebten Tonstudios und Labels immer noch nach der höchstmöglichen Lautstärke. Es gibt leider viele nennenswerte Opfer aus dieser Ära, eines der bemerkenswertesten ist Death Magnetic von Metallica. Das Album war so stark limitiert, dass es zu hörbaren Verzerrungen kam. Dies sorgte für verärgerte Fans, die sich so sehr über die Audioqualität aufregten, dass der Loudness War auch in den Medien aufgegriffen wurde. Es gab Berichterstattungen von Zeitungen wie Wired, The Guardian und BBC.

Das Jahr 2008 war eindeutig ein Höhepunkt des Loudness War, da Estelle’s American Boy und La Roux’ In for the Kill im selben Jahr das gleiche Schicksal erlitten.

true:level Analyse von In for the Kill von La Roux

true:level Analyse von In for the Kill von La Roux

2010er

Im letzten Jahrzehnt erlebten wir den Aufstieg und die weit verbreitete Nutzung von Musikstreaming. Ein großer Teil der Menschen hat inzwischen mindestens einen Streaming-Dienst abonniert – was unbestreitbar eine sehr preiswerte Möglichkeit ist, um Musik zu konsumieren. Die Umstellung auf Streaming brachte noch einen weiteren Vorteil mit sich. Ähnlich wie die Sound Check-Funktion von Apple verwenden alle großen Streaming-Dienste eine normalisierte Lautheit für die Wiedergabe ihrer Musik.

Einfach ausgedrückt, wenn Tracks, die durch die Reduzierung der Dynamik lauter gemacht wurden, haben am Ende trotzdem den gleichen Pegel wie alle anderen Tracks und weisen keine Dynamik auf. Aus diesem Grund werden Streaming-Dienste von vielen als das Ende der Loudness Wars bezeichnet.

true:level Analyse von Top (2012) von Beyonce

true:level Analyse von Top (2012) von Beyonce

Mit den Lautstärkeregelungs-Algorithmen von Spotify und Co. wurden in Tonstudios die Pegel gesenkt und so wieder Dynamik in ihre Mischungen einzubringen. Das sehen wir an Love on Top (2012) von Beyonce und Dead Boys (2018) von Sam  Fender, die deutlich mehr Dynamik aufweisen als Musik aus dem vorherigen Jahrzehnt.

true:level Analyse von Dead Boys (2018) von Sam Fender

true:level Analyse von Dead Boys (2018) von Sam Fender

2020er und weiter

Damit sind wir in der Gegenwart angekommen, in der Musikstreaming zu einem festen Bestandteil des modernen Musikkonsums geworden ist. Es ist eine allgemein anerkannte wissenschaftliche Tatsache, dass lauter besser klingt. Menschen, die in der Musikproduktion tätig sind, werden natürlich weiterhin Wege finden, soviel Lautstärke wie möglich zu erzielen, ohne dass sie von der Streaming-Plattform wieder minimiert wird. Dies wird durch Metering-Plugins wie true:level erleichtert, die eine Reihe von Lautheitsstandards für verschiedene Musikplattformen enthalten.